© – Gunda von Dehn  „Die Königin…“ – aus meinem Musical „Die Schuhe der Prinzessin“

Red Curtain hand over white

 „Chroniken der tom Brook  – Piraten“ – Band III

Konzert des Lebens

Pflichten einer Häuptlingsfrau

Im Osten dämmerte es leicht, schon bald würde die Sonne aufgehen. Die Burgherrin nahm gedankenverloren ihr „Dodenlaken“ aus der Truhe, überprüfte die Nähte, faltete es erneut sorgfältig zusammen und legte es wieder zurück. Zwei, drei Schritte ging sie näher zum Fenster, schaute sinnend hinaus in den prächtigen Garten.

Ritter Ocko, Foelkes verstorbener Gemahl, hatte ihn nach italienischem Vorbild mit langen doppelten Reihen von Obstbäumen und symmetrisch angeordneten Blumenrabatten anlegen lassen, welche die alltäglichen Gemüseanpflanzungen umrahmten. Einige steinerne Bänke luden hie und da zum Ausruhen ein und der Schöpfbrunnen in der Mitte des Gartens war gekrönt von einem eisernen Gestell, welches einen bronzenen Adler mit ausgebreiteten Flügeln trug. Das sah von weitem so aus, als würde dort tatsächlich gerade ein prächtiger Adler landen. Geradezu ein majestätischer Anblick war das, der Foelke stets mit Freude erfüllte.

Im Burggarten blühten jetzt wundervoll die weißen Rosen. Knechte hängten eilig Käfige mit Hähnen in die Bäume, um die Stare davon abzuhalten, Birnen und Äpfel anzupicken. In der Ferne sah Foelke eine Gruppe Reiter sich nahen. Sie sollte hinausgehen an die frische Luft, aber sie fühlte sich hier drinnen unter der mit grünem Blattwerk bemalten Decke wie unter einem Blätterdach, das sie vor der Welt da draußen beschützte. Nur ungern verließ sie ihre Kemenate und zeigte sich dem Volk, aber heute mußte es wohl sein, denn es war Mariens Geburtstag, der 8. September, Kirchweihentag in Marienhafe.

Fast auf den Tag genau war es jetzt einen Monat her, dass Foelkes Gemahl verstorben war. Das bedeutete, dass sich die Zeit seinem Ende näherte, in der Ocko – oder vielmehr seine Rüstung mit der ausgestopften Stoffpuppe – ausgestellt bleiben konnte. Tagtäglich kniete Foelke an Ockos Hochgrab.

Die Estrade, unterstützt von einigen Pilastern, war einige Stufen hoch, die Stützen umwunden mit kostbarem Samt und goldenen Tressen, an denen Wappen, kleine Heiligenstatuen und dergleichen hingen. Über all der Pracht spannte sich ein roter Baldachin. Dieses Hochgrab mit dem kostbaren Paradebett, es würde ihr fehlen. Ockos Leichnam war längst in die Gruft gesenkt und doch fühlte Foelke sich ihrem Gemahl hier näher als dort, in der Basilika des Klosters Ihlow. Täglich lasen die Mönche dort Seelmessen und an der Gruft beteten etliche Seelfrauen. Merkwürdigerweise fühlte Foelke sich dort überflüssig und gestört in ihrer Andacht. Jenes Quäntchen Ungewissheit, das Ockos Tod umgab wie ein geheimnisvoller Nebel, das stritt in ihr mit wechselnden Mutmaßungen.

Vielleicht war Ocko ermordet worden, aber Folkmar Allena, der mächtige Häuptling und Heerführer aus Groningen, den man stark im Verdacht gehabt hatte, der Drahtzieher gewesen zu sein, konnte sich mittels Bahrprobe reinwaschen. Kein Zweifel blieb offen, denn „frei von Schuld“ lautete das Gottesurteil. Vielleicht, diese Möglichkeit musste Foelke ins Auge fassen, war ihr Gemahl doch eines natürlichen Todes gestorben – einfach so, weil ihn das böse Geschehen rund um die Friedensverhandlungen mit Folkmar Allena aufgebracht und überreizt hatten, denn Folkmar hatte Bedingungen gesetzt, Bedingungen, die kaum erfüllbar gewesen waren. Immerhin – man sprach davon, dass er sich ans Herz gefasst habe, bevor er in die Arme seines Widersachers Folkmar Allena gefallen sei. Hatte ihn vielleicht tragischerweise der Schlag getroffen? So etwas sollte es geben, dass Menschen einfach tot umfielen. Er war ja nicht mehr der Jüngste und seit längerer Zeit krank gewesen.

Wie beliebt Ocko gewesen war, hatte der Abt vom Kloster Ihlow bekundet, als er standesgemäß mit allen Ehren in seinem Erb-Begräbnis von Ihlow beigesetzt wurde. „Gott gönne unserem vortrefflichen hochwohlgeborenen Ritter, Richter und Häuptling eine süße Ruhe und an jenem Tag eine fröhliche Auferstehung zum ewigen Leben“, hatte er gesagt, denn Ocko war nicht nur ein großer Gönner und Angehöriger der Stifterfamilie des Klosters gewesen, sondern hatte als ererbtes Recht Teil an der kirchlichen Jurisdiktion. Das war nicht immer leicht für ihn gewesen, denn Kirchenstrafen waren häufig entsetzlich, besonders dann, wenn es um Ehebruch ging.

Wie gern hätte Foelke sich heute in ihrer Kammer verkrochen, wie sie es häufig seit Ockos Tod tat. Dort fühlte sie seine Seele mehr als anderswo. Ich kann nicht ohne dich sein, ich kann’s nicht, aber ich muss, dachte sie traurig. Tränen rannen über ihre bleichen Wangen. Ich liebe dich, Ocko, ich liebe dich so sehr und es nimmt kein Ende. Du hast mich allein gelassen. Ich bin krank vor Sehnsucht nach dir. Ich kann nicht ohne dich sein. Oh, mein Liebster, ich brauche dich so sehr! Was soll ich ohne dich tun? Ich fürchte mich ohne dich, ich fürchte mich vor dem Leben. Wie soll ich es meistern ohne dich? Nichts und niemanden gibt es, der dich ersetzen könnte… Oh, hilf mir mein Gott! Ich flehe dich an! Ich brauche ihn so sehr! Warum hast du ihn mir genommen? Ich will ihn wiederhaben! Gib mir meinen Ocko zurück! Welch schwere Sünde habe ich auf mich geladen, dass du mich so grausam strafst? Keine Freveltat hab ich begangen. Sag an, warum strafst du mich dann so! Warum hast du mir das angetan? Ich kann, ich will nicht ohne ihn sein. Ich brauche ihn so sehr…

Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, ehe sie sich straffte: Ich kann unmöglich verheult zur Prozession gehen. Traurigkeit hilft nicht weiter – sie macht krank, nichts als krank. Ich muss endlich zu mir selbst finden, mich mehr engagieren. Sie sagen, ich mische mich zu sehr in die Politik ein, dabei tue ich es zu wenig. Ich habe die Pflicht, Ockos Erbe zu erhalten und zu mehren! Mir gebührt die Macht. Widzelt darf bis zu Kenos Mündigkeit nicht mehr als nur Nutznießer sein und bleiben… Keno geziemt die Krone der Macht. Ich muss sie für ihn bewahren!

Nicht nur als Landesherrin war sie gehalten, an der Prozession teilzunehmen, sondern auch aus Christenpflicht. Ach, und dabei fühlte sie sich halb tot vor Trauer und Müdigkeit. Der Vollmond hatte ihr den Schlaf geraubt und nicht nur er. Es waren die schrecklichen Gedanken, die sie nicht los ließen. Wie kam es nur, dass sie immer ein strahlend hell erleuchtetes Tor vor sich sah und darin eine Gestalt, die sich langsam entfernte? Kaplan Embeco hatte gesagt, der Tod sei das Tor zum Licht am Ende eines mühsamen Weges. Trotz seiner manchmal überspitzten Ansichten, war der Kaplan ein hoch gebildeter Mann, dessen umfangreiches Wissen Foelke sehr bewunderte. Vielleicht beherrschten seine Worte deswegen fortwährend ihre Gedanken?

Langsam beruhigte Foelke sich wieder. Sie summte ein Liebeslied vor sich hin und mit jedem Ton schien die Melodie sie emporzuheben; sie schwebte davon… in den Himmel… Sie lächelte sogar in süßer Erinnerung und sang plötzlich aus voller Kehle:

 

Friesin1gut

 
      Bis die Distel traget Rosen,
      bis der Mühlstein traget Reben,
      so lang werde ich dich lieben,
      bist auch fern von mir.
 
            Ich weine mir die Augen blind
            in Leid und peinvoll Jammer,
            bist mein ganzes Glück,
            hab dich ja so lieb,
            sterbe bald vor Kummer.
 
Verloren ist mein ganzes Glücke,
ist mein ganzes Glück,
kommt nie mehr zurück,
kommt niemals mehr zurück  …
 

Vor ihrer Kammertür stand Widzelt, den Türgriff in der Hand. Wie oft hatte er dieses Lied schon gehört. Es spiegelte ihren ganzen Schmerz. In atemloser Stille lauschte er auf Foelkes Gesang, der sich emporzuschrauben schien bis in den Himmel – zu ihm – zu Ocko. Wie wunderbar, ihre Stimme zu hören, hell und klar! Jeden dieser sauber intonierten Laute liebte er. Der Klang entwickelte sich, dehnte sich aus, erblühte, ging nicht nur ins Ohr, sondern bis tief in seine Seele.

Plötzlich aber brach ihre Stimme und ging über in Schluchzen, woraufhin Widzelt auf leisen Sohlen seinen Posten verließ. Er hatte sie abholen wollen, denn um fünf Uhr in der Früh sollte sich der Mysterienzug in Bewegung setzen und es war höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Unter diesen Umständen aber beschloss er, erst einmal vorauszureiten nach Marienhafe.

Auch er hatte sich verändert. Manchmal kannte er sich selbst nicht wieder. Er war ruhiger geworden, wurde seltener laut, und wenn doch, dann explodierte er geradezu. Sein Tonfall war manchmal überraschend hart, unsinnig hart sogar. Er verängstigte die Leute. Sie sanken manchmal vor Schreck auf die Knie, um ihn friedlich zu stimmen. Dabei wollte er ihnen doch gar nichts Böses. Übersteigertes Selbstbewußtsein, meinte der Kaplan. Ja, er hatte wohl Recht. Widzelt spürte selber, dass er wahnsinnig überheblich geworden war. Folkmar Allena hatte ihn in aller Öffentlichkeit sogar schon als „arrogantes Arschloch“ beschimpft. Als man Widzelt das zutrug, hat er nur kalt aufgelacht. Nein, das tat ihm nicht weh. Sein Kommentar lautete schlicht: „Selber arrogantes Arschloch. – Der ist nichts als scheelsüchtig.“

Es gab eine Prophezeiung, an die Widzelt fest und unverbrüchlich glaubte. Diese Voraussage lautete in etwa so: Jener, der das Schwert in einem Kreuzzug überlebt, wird das nächste Haupt der Macht. Er hatte an einem Kreuzzug teilgenommen. Ja, und er war daraus heimgekehrt, trotz aller Kämpfe, Krankheiten und Anschläge auf sein Leben. Er glaubte, dass Gott ihm Schutz gewährt hatte, weswegen er starr darauf beharrte, auf dem richtigen Weg zu sein. „Ich schaffe das“, pflegte er zu sagen und irgendwie gelang ihm das sogar, allerdings weniger mit Gewogenheit als mit Gewalt. Widzelt hatte viele Menschen getötet – im Krieg, das war sozusagen Selbsterhaltung, aber er hatte auch etlichen aus der Bredoullie geholfen. Genauso wie bisher, würde sein Leben fortschreiten: Hilfe leisten oder… töten! Das hatte man ihn von Kindesbeinen an gelehrt. Ob als Richter, Häuptling oder Feldherr, ob er Verträge abschloss oder seinem Grafen Fehdehilfe und Heeresfolge leistete, täglich sah er, dass alles, was er tat, unter diesem einen Aspekt stand: Helfen… oder töten!

Was aber hatte er bisher alles erreicht? Was hatte er wirklich und ehrlich mit saurem Schweiß erworben? Hatte er Gutes erreicht? – Hatte er Anerkennung gewonnen? Ansehen? Sicher, denn man schaute zu ihm auf. Beim Heiligen Georg! Das tat man sowieso, weil er dem belangreichen Geschlecht der tom Brook entstammte. Es musste etwas anderes sein, etwas, das nicht mit Krieg und Bluttaten zu tun hatte, etwas, wofür man ihm Dank schuldete… Dankbarkeit? Wer sollte ihm dankbar sein und wofür? Vielleicht die Oda, weil er sie aus dem brennenden Kawen gerettet hatte? Aber warum sollte sie das? Gehörte er doch zu jenen Kreuzlern, welche die Stadt zuvor angezündet hatten.

Die Geistlichkeit äußerte zu seinen Taten, dass er “Großes“ vollbracht habe, weil er dafür gesorgt habe, dass Heiden zu Gott fanden, zu ihrem, zu seinem Gott… Götter verehrten die Menschen davor auch, nur nicht seinen, den einen und einzigen Gott. Niemand hat je diesen Gott gesehen oder doch? Er wusste es nicht mehr. Widzelt wusste auch nicht mehr die Gründe, warum er das eine oder andere getan hatte. Jeder Mensch muss sich überlegen, warum er bestimmte Dinge tut. Auch er. Aber er wusste es einfach nicht mehr. In seinem Kopf dominierte seit Ockos Tod nur noch sie… Foelke. Er wollte nur das Beste für sie. Sie aber wollte nichts von ihm wissen. Warum nicht? Er war doch ein sehr ansehnlicher Mann. Viele junge Frauen bekamen glänzende Augen und rote Apfelwangen, wenn er sie auch nur eines Blickes würdigte. Vielleicht war es nur zu früh für Foelkedis? Vielleicht würde sie nach einer angemessenen Trauerzeit doch noch zu ihm finden? ………


Lehnrecht – Lehnpflicht

Claes Heynenz, des Herzogs Herold, hatte eine Botschaft dabei, die Foelke und Widzelt nötigten, sich zum Lehenvertrag zu äußern. Widzelt las in Gegenwart der Abgesandten die holländische Depesche mehrmals sehr aufmerksam durch. Die Nachricht ließ freundlich aber unmissverständlich anklingen, dass der Herzog umgehend eine positive Antwort erwartete. Plötzlich blickte Widzelt auf und fragte: „Das verschafft mir die Ehre? Glaubt Seine Gnaden, weil Ritter Ocko tot ist, kann er sich unseres Landes bemächtigen?“
„Hätte der Graf damit Unrecht? Was glaubt Ihr? Seid Ihr nicht im Besitz eines Erblehens?“ Heynenz lächelte herausfordernd und die beiden Ritter schlugen leicht an ihr Schwert, als Widzelt schwieg.
„Es gibt da Möglichkeiten…“ sagte einer der Ritter angriffslustig.
„Mit Verlaub, Herr, wer seid Ihr, dass ihr es wagt, mir in meinem eigenen Hause zu drohen?“ Absurd und überflüssig diese Bemerkung. Widzelt hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, war er doch schon mehrfach mit Ritter Adrian zusammengerasselt.
„Ich bin der, der Euch im Haag vom Pferd katapultiert hat. Leidet Ihr seither unter Gedächtnisschwund, Herr? Das wäre bedauerlich.“ Ritter Adrian lachte beleidigend. „Aber nein, so was vergisst man gern, nicht wahr? Unterstreicht das doch eindrucksvoll und schmerzhaft unsere Möglichkeiten.“ „Möglichkeiten! Die kenne ich, auch ohne Eure freche Drohung, Herr! Ich bin nicht der Erbe und auch nicht der Lehnsträger. Das weiß auch der Herzog.“
„Der Herzog will seine Flanke decken“, antwortete Claes Heynenz verbindlich.
„…und gesichert wissen“, fügte Ritter Adrian hinzu.
„Ah ja! Natürlich! In stehe nicht in des Herzogs Diensten. Ist Euch das vielleicht entfallen?“
„Ihr seid der Verweser, Herr.“ Ungeduld schwang in der Stimme von Claes Heynenz.
„Ach so, und deshalb braucht Seine Gnaden mich. Wenn ich dazu aber keine Lust verspüre? Ist ihm dann jedes Mittel recht, Herr?“
„Ich würde das nicht so ausdrücken wollen. Aber wisset, wenn der Fall eintreten sollte, dass Seine Gnaden sich genötigt sieht, Euch auf ‚den rechten Pfad‘ zurückzuführen, würden sich der Graf von Oldenburg und der Bischof von Münster ebenfalls einmischen und sie würden Ansprüche geltend machen, die Euch gewiß nicht genehm wären. Von Eurem gebeutelten Land würde kaum mehr bleiben als verbrannte Erde, Staub und Asche und Ruinen. Na ja, wohl auch noch der Sumpf.“ Der Ritter lachte provokant. „Glaubt Ihr, dass Euch eine andere Wahl bleibt, als sich unter den Schutz der herzoglichen Hand zu stellen, Junker Widzelt?“
„Wir erbitten uns Bedenkzeit“, fiel Foelke gewandt ein. „Gestattet, dass wir uns zuvörderst mit unseren Räten und den edlen Häuptern des Landes beraten, Ritter. Dies wird einige Zeit in Anspruch nehmen, fürchte ich. Ich biete Euch Gastfreundschaft an, so Ihr bleiben wollt. Speis und Trank, gemütliche Unterkunft… Wie hört sich das an?“
„Eure Gastfreundschaft nehme ich gern an. Und sie?“ er blickte auf seine Begleiter. Die zuckten mit den Schultern und redeten durcheinander. Da kam etwas heraus, was sich nach ’Dyken’ anhörte, jenen Dirnen, die auf dem Deich flanierten und den Männern ihre Dienste anboten. Bei Ankunft der herzoglichen Delegation waren die Frauen wohl nicht zimperlich gewesen. Die ’Dyken’ verstanden es, Männern Appetit zu machen.
„Ihr möchtet lieber in der Schnappe nächtigen? Im Wirtshaus oder bei den Weibern auf dem Deich, die ihr Schmuckdöschen für Geld öffnen?“, fragte Widzelt provozierend.
„Verdammt! Mein Tross wird ebenfalls hier wohnen“, entschied Ritter Adrian in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte.
„Ja, wir werden auch hier wohnen“, antwortete einer der Begleiter devot und alle verneigten sich. Ritter Adrian grinste zustimmend: „Im Gesindehaus, Häuptling… Herr Häuptling, Seine Gnaden erwartet Eure Antwort binnen Ablauf dieses Monats.“

„Zu Diensten, Herr Ritter, stets zu Diensten“, dienerte Widzelt übertrieben und Foelke veranlasste einen Hausknecht, den Gästen – der Herold hatte ein halbes Dutzend Bewaffnete dabei – Unterkunft im Gesindehaus zuzuweisen, wie Ritter Adrian es gewünscht hatte. Das kam dem Troß von Adrian anscheinend sogar entgegen, lüsterten die Männer doch schon nach den ‚Dyken‘ vom Deichstrich. …….


Widzelts große Liebe

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Widzelts Badmaid 1966

Einige Tage nach dem ‚großen Rat‘ reisten die Gesandten des Herzogs mit Widzelts Entscheidung und der gesiegelten Urkunde im Mantelsack endlich ab. Widzelt hatte die Höflichkeit besessen, ihnen ein Gelage nach dem andern zu bieten. Die hatte Widzelt natürlich auch bestehen müssen. Weidlich nutzten die Gesandten die günstige Gelegenheit, sich kostenlos zu betrinken. Dabei kam es weniger auf den guten Geschmack an als auf die Menge. Das musste „hinhauen“! Sie tranken aus Humpen und Ziegenschläuchen, Genever, Wein und Bier, ganz gleich was, in freiherziger Wohllaune. Und stand der Pegel hoch genug, dann wanderten sie allesamt Arm in Arm hinunter zum Dirnenhaus auf dem Deichstrich. So verging ihnen die Zeit recht kurzweilig und Widzelt lieh ihnen das Geld dazu. Allerdings waren sie ihm die Rückzahlung bei der Abreise schuldig geblieben.

Gleich wie, der Junker hatte es furchtbar eilig, möglichst rasch in die öffentliche Badestube zu kommen.
Foelke lachte: „Du willst wohl deine Badmaid treffen? Es ist Freitag, Widzelt. Da ist das Baden für einen guten Christenmenschen verboten.“
„Ich will nicht baden. Es war eine harte Woche. Ich will mich ausruhen und richtig verwöhnen lassen: ein Schwitzbad, eine Massage, schön rasieren und die Haare ein wenig stutzen.“ Er nestelte an seinem Haarband herum, ehe er fortfuhr: „Ja, und die Füße pflegen, essen und trinken, knobeln…“
Ihm fiel nichts mehr ein, was er ihr sage konnte und Foelke ergänzte: „…dich an der baren Baderin ergötzen.“
„Sie ist nicht nackt, sie trägt stets ein Gewand.“
Der bucklige Ubbo watschelte hinzu: „Aber ein durchsichtiges. Das gefällt ihm!“
„Immerzu musst du was mummeln mit deinem Hasengebiss!“
„Ich hab‘s geseh‘n! Hab‘s geseh‘n!“ quäkte Ubbo keck und schwupp hatte er sich eine Ohrfeige eingefangen.
„Hm, aber sie trägt ein Gewand. Das weiß man doch: Willst Du einen Tag fröhlich sein? Geh ins Bad hinein!“
Foelke schüttelte den Kopf. Was zieht die Männer nur in dies schmuddelige Badhaus? Essen und trinken? Spielen? In unserem Bad ist es doch viel schöner und man ist ungestört! Aber nein, es sind die nackten Baderinnen!
„Willst du ein Jahr fröhlich sein? Nimm ein junges Weib“, giggerte Ubbo albern. „Kaplan Embeco sagt, der Junker sehnt sich danach, die Karre zu schieben.“
„Ubbo!“ Widzelt langte ihm eine und Ubbo floh jaulend nach draußen.
„Er hat Recht, Widzelt. – Was ist mit deiner Oda? Willst du, dass Oda vors Sendgericht geladen wird? Ich wünsche, dass du das umgehend regelst, sonst musst du tatsächlich eines Tages die Oda in der Schubkarre durch die Gassen fahren und die Leute lachen dich aus und bewerfen euch mit Unrat!“
„Mich? Das glaubst du selber nicht! Ich bin der Herr hier! Mastino Visconti hat mindestens zehn illegitime Kinder und musste niemals…“
„Ja, und wir sind hier in Ostfriesland und nicht im sündigen Babylon und der Bischof ist mächtiger als du.“
„Das sollte ein Witz sein, Foelkedis.“
„Ja, ein Witz. Du versteckst dich immer hinter Witzen. Nimm dich ihrer an, es ist … ich spüre es …“ Infolge der eigenen Schwangerschaft befand Foelke sich in weicher, barmherziger Stimmung, ihr kamen die Tränen angesichts des Unglücks von Oda, aber Widzelt bemerkte das nicht. Zärtlich ließ sie ihre Hände über den gewölbten Leib gleiten.
„Was denn?“ fragte er ungehalten. „Du meinst doch nicht, dass ich sie heiraten soll?“
„Warum nicht? Man sagt, du hättest zur Walpurgisnacht eine Linde für sie gepflanzt. Die Linde ist ein heiliger Baum, weißt du das denn nicht?“
„Doch.“
„Und du weißt auch, dass sie mit ihren herzförmigen Blättern Freija, der Liebesgöttin, der Hüterin des Feuers und des Friedens zugeordnet wird?“
„Ja.“
„Und du weißt auch, dass die Linde wohl 1000 Jahre alt wird? Dass die Linde der Liebesbaum ist? – Da man der Linde nachsagt, als Baum Freijas die Wahrheit ans Licht zu bringen, hält man noch heute unter ihr Gerichts- und Thingversammlungen ab.“
„Ich weiß, Foelke. Ich weiß das alles. Die Linde ist aber auch der Schutzbaum vor bösen Geistern.“
„Bösen Geistern! Der Liebe meinst du? Der Schutzbaum der Liebe?“
„Vielleicht.“
„Man sagt, sie sei sehr schön…“
„Wahrlich, das ist sie! Kirschrote Lippen, Augen wie zwei Sterne so schön, Haare so weich wie Seide – nein noch weicher… Aber ich kann’s nicht. Sie ist ungebändigt und widerspenstig und müsste erst von mir erzogen werden, um Demut und Gehorsam zu lernen.“
„Dann tu’s oder liebst du sie nicht?“ Fragend schauten ihre grünen Augen ihn an.
„Ach Foelkedis, Liebe… Was ist das? Frag mich nicht, ob ich sie liebe. Ich mag sie und sie mag mich und wir haben… uns vereint. Aber Liebe? Das liegt im Auge des Betrachters. Ich werde sie keinesfalls heiraten!“
„Wie das?“
„Du gibst keine Ruhe, was?“
„Wenn du keine von der Kirche anerkannte Muntehe willst, so schließe eine Friedelehe.“
„Eine Liebesehe! Was soll das? Da ändert sich doch nichts. Die Kirche hat die Friedelehe zum Konkubinat erklärt.“
„Das macht doch nichts, wenn du sie liebst. Wenn Oda nachträglich den Brautschatz leistet, kannst du eure Ehe zur Muntehe erklären lassen.“
„Brautschatz! Wovon redest du? Gib dir keine Mühe. Ich liebe sie gar nicht und heiraten werde ich sie noch weniger! Sie ist mir nicht ebenbürtig, Foelke.“
Nicht ebenbürtig? Ist Widzelt nicht ein Bastard? dachte Foelke, sagte aber, dass die Ehe zur linken Hand von der Kirche anerkannt werde: „Nur für deine Oda und eure Kinder gibt es den Nachteil, dass sie dir gegenüber nicht erbberechtigt sind. Aber durch reichliche Schenkungen zu deinen Lebzeiten kannst du ihre Zukunft sichern.“
Widzelt lief rot an und bölkte: „Also gut, du glaubst es nicht. Das wird dir nicht gefallen. Höre gut zu: Oda ist alles andere als standesgemäß. Sie ist eine, eine, eine…“
„Ja, was denn?“
Er konnte es nicht aussprechen. „Ach lass!“ winkte er ab. Aber Foelke wollte es nun wirklich wissen. „Sie ist doch eine Heidin, oder?“
„Nein, sie ist getauft.“
„Ja was denn? Was ist sie denn? – Eine Hure?“
„Nein, sie ist keine Hure! Sie ist eine Leibeigene! So, jetzt weißt du es.“
Foelke sah sich erschrocken um und flüsterte bestürzt: „Nicht so laut, Widzelt. Das Gesinde! – Was sagst du da? Das ist nicht wahr!“
„Du hast es gehört. Was ich gesagt habe, habe ich gesagt.“
„Du lässt dich mit einer Leibeigenen ein? Du? Der Verweser? Bist du noch ganz bei Trost? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist? Widzelt! Wenn das so ist… Nein, dann kannst du sie nicht heiraten, denn du würdest all deine Rechte verlieren und ich würde dich auch verlieren“, sagte Foelke traurig und sie musste daran denken, dass Folkmar Allena ihr einmal anempfohlen hatte, sein Kebsweib zu werden. Kebsweib! Welch unerhörte Beleidigung! Ein Kebsweib, das konnte Oda werden, denn Kebsweiber wurden Frauen, die aus dem Stande der Leibeigenschaft kamen. Der freie Mann nahm sie als Nebenfrau, ohne ihr allerdings irgendwelche Ansprüche oder Rechte zu überlassen. Dieses Mädchen, diese Oda, sie konnte Widzelts Kebsweib werden, wenn er es so wollte, obgleich auch das mit klerikalen Schwierigkeiten verbunden sein würde. „Wem gehört sie denn? Kannst du sie nicht freikaufen?“
„Dem Orden.“
„Welchem Orden? Sicher kann meine Schwester Hebe etwas für sie tun.“
„Foelke, sie kommt aus Kawen (heute: „Kowno“). Ich habe sie als Beute dem Deutschritterorden überlassen. Kniprode wollte sie mir schenken, aber er hat es wohl vergessen und sie einem anderen Orden gegeben und der wird sie nicht freigeben.“
„Aber warum nicht?“
„Weißt du denn das nicht? Leibeigene lässt man ungern frei, Foelke.“
„Widzelt, werd‘ nicht frech. – Leibeigene! Das weiß hier doch keiner! – Biete Geld, eine größere Summe wirkt oft Wunder!“
„Glaub mir, sie wollen es nicht.“
„Aha, du hast es schon versucht? – Du könntest sie vielleicht…, ich meine, es wäre doch möglich…“
„Ja, was denn?“ Ungeduld sprang Foelke entgegen.
„… als Kebsweib nehmen.“
„Kebse! Dann wäre sie meine Sklavin! Ich will keine Sklavin als Weib!“
„Widzelt, mach die Augen auf! Es ist ein Kebsverhältnis, was du hast. Und wenn sie ein Kind hat von deinem, von Ockos Blut… Du kannst verhindern, dass man ihr etwas antut. Alles andere ist nebensächlich, denn die Unschuld der Kinder vermag die größten Wunder zu vollbringen…“
„Wunder! Ja, das ‚Wunder‘ der Buße, dass man Oda an den Pranger stellt und blutig peitscht…“
„Aber du kannst als Vater von …“
„Nichts kann ich. Für jeden Stand gilt der Rechtssatz, dass das gemeinsame Kind bei einer ständisch gemischten Ehe immer der ärgeren Hand folgen soll, also dem rechtlich schlechter gestellten Eheteil. Kebskinder sind nicht erbberechtigt. Glaubst du, ich würde darüber nicht nachdenken?“
„Als Vater könntest du zumindest die rechtliche Stellung deines Kindes verbessern und es könnte bei uns aufwachsen. – Was ist es denn, Widzelt, was dich zu ihr hinzieht, wenn nicht Liebe? Nur fleischliche Lust?“
„Im Bruch ist Brunftzeit der Hirsche“, scherzte Widzelt verschmitzt….
Rehe nach Marc3

Rehe nach F. Marc – 1974

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Aquarell: Waldhaus  1960

 
 
 

AutogrammkarteGunda

Gunda von Dehn

 

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S.J. Meyer-Abich

„Bedefahrt nach Santiago de Compostela“ S.-J.-Meyer-Abich. – Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Meyer-Abich für die leihweise Überlassung eines Fotos von seiner Mutter aus dem Familienalbum – Ölportrait 2011

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass bereits die Heimatdichterin Siever Johanna Meyer-Abich (09. 08.1895 +18.03.1981) das Thema der Familie tom Brok in Angriff genommen und lit. bearbeitet hat. Das ist nicht verwunderlich, weil sie eben dort geboren wurde, nämlich in Oldeborg „auf der hogen Lücht“, dort wo einst die Burg der tom Brok gestanden hat. Sie war eine Tochter von Jann Berghaus, dem Erneuerer der Ostfriesischen Landschaft. Ihre Kindheit in dem verschlafenen Oldeborg im Brookmerland, jenem Ort, wo einst das Zentrum der Macht in Ostfriesland gelegen hat, hat das Werk der  Heimatdichterin entscheidend geprägt. Ihr Roman „Foelke Kampana“ befaßt sich überwiegend mit der Familie tom Brok im Zeitraum zwischen 1358 und 1435. Frau Meyer-Abichs Titelfigur ist in Ostfriesland unter dem Namen „Quade Foelke“ bekannt. Sie war die Gemahlin des Häuptlings Ocko tom Brok. –  Die Liebe zur Familie und zur Natur durchzieht geradezu aus dem Rahmen tretend Frau Meyer-Abichs Werk. Unverkennbar hat die Dichterin sich stark selbst eingebracht, so daß der Leser deutlich die Bewegung ihrer Seele erfährt, Trauer und Melancholie gleichermaßen wie Glück und Freude.

Als ich meine Version der Ostfriesischen Geschichte niederschrieb, was mich über etliche Jahre beschäftigte, da ich sehr viele andere Verpflichtungen hatte, war mir die Existenz des Romanes „Foelke Kampana“ noch unbekannt. Somit ist eine Tetralogie aus meiner Feder entstanden, die lediglich geschichtliche Daten gemein hat mit der Version von S.-J. Meyer-Abich. Wer also „Foelke Kampana“ bereits gelesen hat, wird einige Überraschungen in den „Chroniken der tom Brook“ erleben!


Bilder: Gunda von Dehn

letzte Änderung 05.10.2023