© – Gunda v. Dehn – „Flucht“

 Widzelt Kenisna tom Brok

                                  – Lehnmann des Grafen Albrecht von Holland –

ruhmvoller Kriegsheld oder ehrloser Usurpator?

Wir schreiben das Jahr 1398 im September.
In Ostfriesland laufen die Menschen auf allen öffentlichen Plätzen zusammen. Ein Herold verliest ein Dokument. – Widzelt Kenisna ist zum Lehnmann des Grafen von Holland erhoben worden! – Die Menschen sind aufgebracht und erzürnt, manche reden von Betrug, Diebstahl, Raub! Warum diese Aufregung?

Blenden wir zurück und schauen uns Ritter Ockos Lehnbrief aus dem Jahr 1381 (Chronik „Monumenta Groningana“ S. 791) an:

Ocko I

Lehnbrief von Ritter Ocko I.

Sieht man sich diesen Lehnbrief genauer an, so stellt man fest, dass er eindeutig die Maßgabe enthält, dass das Erblehen auf die legitimen Nachkommen von Ocko I. übergehen soll.
Der rechtmäßige Erbe war dessen Sohn Keno II. Dieser hatte Anspruch auf das Erblehen und niemand sonst. So geht es aus dem Lehnbrief von Ritter Ocko hervor. Eine bindende Klausel, die selbst der mächtige Herzog von Bayern (Graf von Holland) nicht außer Kraft setzen konnte. Nicht einmal der Kaiser. Nein, das konnte niemand. Den Statuten des Erblehnrechts musste Genüge getan werden. Wie kam es dann aber, dass Widzelt Kenisna plötzlich das Erblehen erhielt?

In der Chronik „Monumenta Groningana“ (Seite 792) findet sich eine Abschrift des Lehnbriefes von Widzelt. Der „Opdragtbrief“ ist sehr lang, darum hier nur ein kurzer Auszug in Übersetzung:
„Wir, Wydzel, Herrn Ocken Sohn, und Volmaer, Allen Sohn (d.i. Folkmar Allena), Häuptlinge diesseits der Ems in Ostfriesland, tun kund allen Leuten, dass wir für uns und unsere Nachkommen mit unserem freien Willen… aufgetragen und geschworen haben… Herzog Albrecht von Bayern, Graf von Hennegau, Holland und Seeland, Herr von Friesland und seinen Nachkommen zum rechten Eigentum von solchen Landen, Herrlichkeiten, Gütern und Schlössern, die wir nun zur Zeit halten, haben und besitzen zwischen der Ems und der Jade in Ostfriesland… “  etc.

Zusammenfassend bedeutet es, dass Widzelt alle seine bisherigen und noch zu erwartenden Eroberungen dem Herzog Albrecht von Bayern, Graf von Holland, überträgt. Weiter überträgt Widzelt dem Herzog ebenfalls alle Besitzungen aus dem Erbe von Ritter Ocko tom Brok. Letzteres ist merkwürdig, weil Widzelt gar nicht der Erbe von Ritter Ocko gewesen ist. Demgemäß hatte Widzelt gar keine Güter empfangen, die er dem Herzog hätte übertragen können. Trotzdem überträgt Widzelt dem Grafen von Holland diese Besitzungen aus dem Erbe von Ritter Ocko! Gleichermaßen überträgt der Graf von Holland mit dem Lehnbrief vom 11. September 1398 Widzelt und seinen Nachkommen all diese an ihn übertragenen Güter als „unsterbliches Erblehen“.

Wichtig ist im Zusammenhang mit der Lehnübertragung die Formulierung „Ocken Soen“. Das ist das Zauberwort, welches alles möglich macht.

Widzelt02

Lehnbrief von Widzelt Kenisna tom Brok

Man hat hier offenbar entsprechende „Fakten“ konstruiert. Man passte Widzelts Herkunft den Erfordernissen an, das heißt, man modifizierte seine Herkunft, machte ihn zum Sohn von Ritter Ocko, also ritterbürtig und legitim.
Bei Ausstellung des Lehnbriefes hatte Widzelt bereits viele Jahre lang zusammen mit Foelke, Ockos Witwe, als Verweser für Ritter Ockos Sohn regiert. Wäre Widzelt tatsächlich der rechtmäßige Erbe gewesen, dann wäre er auch nicht zum Vormund für Ritter Ockos minderjährigen Sohn bestellt worden.

Im Mittelalter war man aber sehr findig, wenn es darum ging, die Erbfolge zu ändern. Ritter Ockos Sohn, Keno II., hatte Glück, dass hier nur Urkundenfälschung vollzogen wurde, anderswo wurde brutal zu Arretierung, Blendung, Entmannung gegriffen. Üblicherweise wurden Mord und Totschlag angewendet, um das gewünschte Ziel rasch zu erreichen. In letzter Konsequenz stellte diese Urkundenfälschung auch für Keno II. eine beträchtliche Lebensbedrohung dar.

Zu jener Zeit gab eine Vielzahl mächtiger Großgrundbesitzer zwischen Lauwers (Grenzfluss zw. der heutigen ndl. Provinz Friesland u. der Provinz Groningen) und Ems den Kampf gegen den Grafen von Holland auf, unterwarf sich und übertrug dem Grafen sämtliche Besitzungen, um sie als Erblehen von ihm zurückzuerhalten.
Folkmar Allena, der Held der Groninger Freiheitsbewegung, sah sich praktisch umzingelt von den Vasallen des Herzogs. Auch für ihn gab es keine andere Möglichkeit mehr, als sich zu unterwerfen.

Anmerkung zu Folkmar Allena: Er entstammte vermutlich einem alten Königsgeschlecht: „Finn, son of Folcwald, was a legendary Frisian king. He is mentioned in Widsith, in Beowulf, and in the Finnsburg Fragment. There is also a Finn mentioned in Historia Brittonum.“ s. Tribes of Widsith – Wikipedia

Der Name Widselt (=Widzelt) könnte evtl. beruhen auf Widsith. – Wenn das zutrifft, entstammen die tom Brok ursprünglich dem Geschlecht der „Myrging“ von Schleswig-Holstein. Diese Annahme würde übrigens korrelieren mit der Gegebenheit, dass der dänische Friesenkönig Redbad bzw. Radbod  ebenfalls von dort stammte (König von Haithabu). Die verschiedenen Häuptlingsfamilien waren untereinander sehr eng verwandt und es läßt sich vermuten, dass sie im Grunde denselben Ursprung hatten, nämlich regierenden Wikingergeschlechtern!

Der germanische Name Withold: „Wit„, „Wid“ oder „Widu“ wie in „Widukind“ bedeutet Wald, „hold“ (=held) bedeutet Mann oder Kerl in der althochdt. Sprache. Sinngemäß ist möglicherweise  „Withold“  die Grundlage für den Namen „Widzelt ten Broek“ (=Widselt; …elt = held) gewesen.

Der mächtige Häuptling Folkmar Allena bot seine Alloden (ererbtes Eigengut) dem Grafen zu Lehen an und das waren enorm große Güter jenseits der Ems. Nach mittelalterlichem Gesetz benötigte Folkmar Allena aber einen ritterbürtigen Bürgen, um überhaupt Lehnmann des Grafen werden zu können. Dieser Bürge war nun Widzelt, er erhielt die Alloden von Folkmar Allena als Afterlehen (ein Lehen, das der Lehngeber selbst erhalten hat und an einen anderen Lehnnehmer weitergibt).
Bevor das geschehen konnte, musste aber zuerst ein weiteres Hindernis beseitigt werden, denn auch Widzelt war nicht von ritterlicher Herkunft. Das musste „angepasst“ werden, sonst gelang der Plan nicht, denn selbst uralter Geburtsadel zählte nicht als ritterbürtig.

Im Jahre 1398 erforderten die politischen Gegebenheiten feste Strukturen, da Groningen nun endgültig erobert werden sollte. Nie war die Konstellation so günstig gewesen, die Groninger endlich niederwerfen zu können. Widzelt und Folkmar Allena hatten sich verpflichtet, zu bewirken, dass Groningen sich dem Herzog unterwarf und ihm huldigte. Für diesen Fall gestattete ihnen der Herzog sogar, ihm Rat bei der Besetzung der dortigen Obrigkeit zu erteilen.
Die Vermutung liegt nahe, dass Herzog Albrecht nicht länger darauf warten wollte oder konnte, bis Keno II., mündig wurde. Allerdings entsprach es den mittelalterlichen Gepflogenheiten, Kinder vorzeitig für mündig zu erklären, wenn es die Umstände verlangten.
Nein, hier scheint absichtlich der „Eroberer“ Widzelt bevorzugt worden zu sein. Während Ritter Ockos Güter noch relativ bescheiden gewesen waren (sie bestanden aus der Herrschaft über Norder-, Brookmer- und Auricherland nebst einigen Burgen sowie Turm und Kirche zu Norden sowie höchstwahrscheinlich einigen Gütern jenseits der Ems), hatte Widzelt seine Macht schon bis zur Jade ausgedehnt. Nur Emden fehlte Widzelt noch als Perle im Kranz seiner Eroberungen.

Dieser für Widzelt Kenisna ausgestellte Lehnbrief brachte Keno II., den legitimen Erben von Ritter Ocko, um sein Erblehen.

Es ist bekannt, dass Herzog Albrecht von Bayern, Graf von Holland, ein Machtmensch gewesen ist, der seine Vorstellungen – wie im Mittelalter üblich – mit Gewalt durchdrückte. Er war einer der mächtigsten Fürsten Europas. Albrechts Ziel war es, die Friesen endlich zu unterwerfen. Die Niederwerfung der Stadt Delft und die Verfolgung der Hooks, der politischen Adelspartei (1392), brachten ihn diesem Ziel ein gutes Stück näher.
Auch der viele Jahre herrschende, aufreibende Bürgerkrieg in Albrechts Grafschaft, in dem sich die Adelspartei und die bürgerliche Partei bekämpften (Hooks gegen Cods), kam dem Herzog wohl nicht ungelegen.
Um 1398 schien Groningen nach Jahrzehnte währendem Kampf endlich reif zur Niederwerfung. Dafür brauchte der Graf die Unterstützung der mächtigen Häuptlinge Widzelt Kenisna und Folkmar Allena (vormaliger Heerführer von Groningen).
Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass hier ein Handel stattgefunden hat zwischen dem Grafen von Holland und Widzelt Kenisna.

Diese Hypothese wird gestützt durch folgenden Bodenfund der Ostfriesischen Landschaft:

Im Mai 1900 wurde auf dem Terrain der Norder Eisenhütte beim Ausheben einer Baugrube eine 12 cm lange kupferne, patronenförmige Röhre gefunden, die mit einem Deckel verschlossen war. Derartige „Zeitkapseln“ werden auch heute noch gelegentlich bei Grundsteinlegungen verwendet.  Sie enthielt 108 Silbermünzen. Der Fund wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift für Numismatik, XXIII. Bd., S. 67. Unter den Silbermünzen befanden sich 14 Wittenpfennige von Witzeld (=Widzelt).

Die 14 Exemplare von Norden zeigen auf der Vorderseite den Adler der tom Brok mit der Umschrift Widzaldi Kenisna. Die Rückseite zeigt ein von 4 Kronen umstelltes befußtes Kreuz im Perlenkreis und die Umschrift „Moneta de Broca“.

Nachdem nun der Lehnbrief von 1398 Widzelt als Ockos Sohn bezeichnet, wirft der Münzfund einige Bedenken auf.  Warum nennt Widzelt sich auf seinen Münzen Widzaldi Kenisna? Wäre er Ockos Sohn, müsste es korrekt Widzaldi Ockonis heißen.
Die Namenswahl zeigt, dass Widzelt weder Ockos legitimer Sohn, noch sein illegitimer Sohn gewesen ist. Wäre er illegitim gewesen, so hätte Widzelt nach den damaligen Gesetzen der Heraldik in seinem Wappen den Bastardbalken führen müssen, einen Schrägbalken, der das Wappen teilt. Auch das ist hier nicht der Fall. Tatsächlich scheint „Widzaldi Kenisna“ ein Sohn von Keno I. gewesen zu sein, also ein Bruder oder Halbbruder von Ritter Ocko I. Dennoch zeigt eine seiner „Witten“  ein gekröntes „W“, eine andere Witte sogar in jedem Winkel eines befußten Kreuzes eine Krone. Demnach sind die „Kronen“ nicht einzig und allein auf Ocko I. zugeschnitten gewesen, sondern völlig legitim für die „tom Brok“ verwendbar gewesen.

Focko Ukena

Focko Ukena Häuptling von Neermoor

Indes, lange konnte Widzelt sich nicht an seinem erschlichenen Erblehen erfreuen. Schon im April 1399 geriet er mit dem Abt Fulko von Thedingen in Streit. Es heißt in den Chroniken, das Focko Ukena das Kloster Thedingen widerrechtlich befestigt hatte. Focko Ukena hatte nicht die Verfügungsgewalt über den Grund und Boden. Niemand, auch nicht die Reichsgewalt, hatte das Recht, auf fremdem Boden eine Wehranlage zu errichten. Wenn er das dennoch tat, war das eine illegale Enteignung. Focko Ukena hätte die Gesetze nicht unterlaufen dürfen. Das bedeutete aber nun nicht, dass Widzelt als Landesherr das Recht hatte, das Kloster in Schutt und Asche zu legen. Trotzdem eroberte Widzelt das Kloster Thedingen und ließ es niederbrennen.

Dieser Frevel rief die Bischöfe von Bremen, Münster und Minden (alle aus dem Hause Oldenburg) gegen Widzelt auf den Plan, die mit Heereskraft gegen ihn vorgingen. Das waren: Bischof von Münster (1392-1424) Otto IV. von Hoya; Bischof von Minden (1398 1402) Wilhelm II. von Buchen,  Erzbischof von Bremen (1395-1406) Otto II von Oldenburg)
Widzelt hatte nur 80 Mann bei sich, als er von den Heerscharen der Bischöfe angegriffen wurde. Er verschanzte sich in der Kirche von Detern. Die Kirche wurde angesteckt, so, wie er zuvor das Kloster angesteckt hatte. Widzelt ist im April 1399 in der Kirche zu Detern mit etlichen seiner Männer umgekommen.
Neben dem Häuptling Ocko II. (Sohn von Keno II.), der diesen „Mord“ gegenüber Focko Ukena von Neermoor vorgebracht hat, um seinen geplanten Einmarsch im Saterland zu rechtfertigen, haben später auch Historiker vermutet, dass hier ein Mord vorliegen könnte und zwar aus dem Grunde, weil Widzelt die Herrschaft nicht an Keno II. abgeben wollte. Das scheint sehr plausibel, denn Widzelts Erhebung zum Lehnmann des Grafen Albrecht von Holland bestimmte Widzelts Nachkommen zu Erben des „unsterblichen Erblehens“. Ritter Ockos wahre Erben wurden damit aus der Erbfolge gestrichen.

Keno II., Ritter Ockos Sohn, übernahm gleich nach Widzelts Tod (1399) die Regierung. Damit müsste er ca. 25 Jahre alt gewesen sein, denn das Mündigkeitsalter betrug 12 Jahre, Volljährigkeit 15 Jahre (Einsetzen in die Regierung mit Beiständen, so wie nach Ritter Ockos Tod bei Keno II. mit Foelke und Widzeld geschehen), das Alter für die Regierungsfähigkeit (als Alleinherrscher) betrug ca. 25 Jahre.
Keno II. starb 1417 an den Folgen einer Kriegsverletzung.

Fazit: Jener Lehnbrief aus dem Jahre 1398, der Widzelt als „Ocken Soen“ bezeichnet, hat offenbar nicht nur die königliche Kanzlei getäuscht, sondern über Jahrhunderte hinweg die Tatsachen verzerrt. Der oben erwähnte Münzfund von Norden wirft ein völlig anderes Licht auf die Geschichte.

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Bodenforschung:

Im Mai 1900 wurde auf dem Terrain der Norder Eisenhütte beim Ausheben einer Baugrube eine 12 cm lange kupferne, patronenförmige Röhre gefunden, die mit einem Deckel verschlossen war. Sie enthielt 108 Silbermünzen. Der Fund wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift für Numismatik, XXIII. Bd., S. 67. Unter den Silbermünzen befanden sich

14 Wittenpfennige von Widzelt (Widzeld) tom Brok (Regent von 1389 bis 1399)

sowie ein Halber Flindrich des Häuptlings von Udo von Norden (1421-1433), Sohn von Focko Ukena, Moormeerland. Udo kam in den Besitz des Norderlandes durch die Heirat mit Hymba (Hyma) Itzinga. 1877 wurde ein Goldfund zu Nordoog gemacht, der 13 Goldgulden Udo’s in fünf verschiedenen Prägungen enthielt. Der erste Halbe Flindrich befand sich bereits 1898 im Bückener Fund. Eine gleiche Münze befindet sich im Norder Fund. (Sie misst wie jene 24 mm im Durchmesser, hat aber ein Gewicht von 9,45 gr!) Somit scheint die Münze von Norden das Probe-Prägestück des Halben Flindrichs zu sein. Dies ist wohl auch der Fall bei den 5 verschiedenen Prägungen der zu Nordoog gefundenen 13 Goldgulden. Das Gepräge ist vorzüglich erhalten, der Typus der Vorderseite ist ähnlich der Rittergulden Udo’s.

Von Widzeld tom Brok war bis dahin nur eine kleine Silbermünze bekannt, die sich bei einem Privatsammler befand (s. Münzen Ostfr. I Fig. 66). Die 14 Exemplare von Norden zeigen auf der Vorderseite den Adler der tom Brok. Die Rückseite zeigt ein von 4 Kronen umstelltes befußtes Kreuz im Perlenkreis. Es sind drei Stempelunterschiede vorhanden.

(Anm.: Die Abbildungen von Widzelts Münzen geben nur einen Eindruck wieder. Bessere Abbildungen hat die Landschaftsbibliothek, Aurich. Dort ist auch die Legende gut lesbar.)


AutogrammkarteGunda

Gunda von Dehn

 Hinweis: Roman Chroniken der tom Brook

Band I-IV „Chroniken der tom Brook“:  als E-Books erhältlich:

http://www.hugendubel.de/de/ebook/gunda_von_dehn-chroniken_der_tom_brook-29133974-produkt-details.html

Band II „Chroniken der tom Brook“: http://store.kobobooks.com/de-DE/ebook/chroniken-der-tom-brook-1


Letzte Änderung 05.10. 2023